2016

D e z e m b e r  2 0 1 6

Alt möcht ich werden

Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,
mit Jahresringen, längst nicht mehr zu zählen,
mit Rinden, die sich immer wieder schälen,
mit Wurzeln tief, dass sie kein Spaten sticht.

In dieser Zeit, wo alles neu beginnt,
und wo die Saaten alter Träume reifen,
mag wer da will den Tod begreifen –
ich nicht!

Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,
zu dem die sommerfrohen Wandrer fänden,
mit meiner Krone Schutz und Schatten spenden
in dieser Zeit, wo alles neu beginnt.

Aus sagenhaften Zeiten möcht ich ragen,
durch die der Schmerz hinging, ein böser Traum,
in eine Zeit, von der die Menschen sagen:
Wie ist sie schön! O wie wir glücklich sind

Louis Fürnberg

*

Louis Fürnberg (1909 – 1957) war ein tschechoslowakisch-deutscher Schriftsteller, Dichter und Journalist, Komponist und Diplomat. Das Gedicht ist auch insofern interessant, da Fürnberg es schrieb, nachdem er von seiner terminalen Krebserkrankung erfahren hatte.

N o v e m b e r  2 0 1 6

Advent

Der Frost haucht zarte Häkelspitzen
Perlmuttergrau ans Scheibenglas.
Da blühn bis an die Fensterritzen
Eisblumen, Sterne, Farn und Gras.
Kristalle schaukeln von den Bäumen,
die letzen Vögel sind entflohn.
Leis fällt der Schnee – in unsern Träumen
weihnachtet es seit gestern schon.

Mascha Kaléko

*

Mascha Kaléko (1907-1975) war eine deutschsprachige, der Neuen Sachlichkeit zugerechnete Dichterin.

O k t o b e r  2 0 1 6

Im Spätherbst 

Es fallen von den Bäumen
Die welken Blätter ab,
Ich wandle still in Träumen
Den Felsenpfad hinab.

Die Wolken, wie sie jagen,
Im Abendgolde blühn,
Von Stürmen fortgetragen,
Und in die Nacht verglühn!

In Schwärmen kommt gezogen
Der Wandervögel Schar
Dem Süden zugeflogen:
Zu Ende geht das Jahr.

Die Blumen an dem Bache,
Vom letzten Tau gestärkt,
Verblühn in stillem Ache
Allmählich, unvermerkt.

Vergangne Jahre schweben
Mit Wind und Wolken fort,
Vergangen Leid und Leben,
Verklungen Lied und Wort.

Der Wind entlaubt die Bäume
Mir ist es einerlei!
Die Tage werden Träume,
Die Freuden sind vorbei.

Hermann von Lingg

*

Hermann von Lingg (1820-1905) war ein deutscher Dichter und Mediziner.

S e p t e m b e r  2 0 1 6

Ein Bilderbuch ist diese Welt,
das manchem herzlich wohlgefällt.
Der blätternd Bild um Bild genießt,
vom Text nicht eine Zeile liest.

Paul von Heyse

*

Paul von Heyse (1830 – 1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. 1910 wurde Heyse als erster deutscher Autor belletristischer Werke mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

A u g u s t  2 0 1 6

Nach dem Regen

Die Vögel zwitschern, die Mücken
Sie tanzen im Sonnenschein,
Tiefgrüne feuchte Reben
Gucken ins Fenster herein.

Die Tauben girren und kosen
Dort auf dem niedern Dach,
Im Garten jagen spielend
Die Buben den Mädeln nach.

Es knistert in den Büschen,
Es zieht durch die helle Luft
Das Klingen fallender Tropfen,
Der Sommerregenduft.

Ada Christen

*

Ada Christen, (1839-1901) war eine österreichische Schriftstellerin und Schauspielerin.

J u l i  2 0 1 6

Der Sturm sprach einst: “Ich kenne
die Welt; denn ich zerpflücke sie.”
Da sprach der Reif: “Ich kenne
die Welt; denn ich erdrücke sie.”
Die Sonne lacht: “Ich kenne
sie besser; denn ich beglücke sie.”

Carmen Sylva

*

Carmen Sylva (1843 – 1916), Dichtername der Königin Elisabeth (eigentlich Pauline Elisabeth Ottilie Luise) Prinzessin zu Wied, Königin von Rumänien, deutsche Lyrikerin und neuromantische Märchenerzählerin.

J u n i  2 0 1 6

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab’ ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die über’m Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Joseph von Eichendorff

*

Joseph von Eichendorff (1788-1857) ist ein Lyriker und Schriftsteller der deutschen Romantik. Das Gedicht wurde 1834 in dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“ publiziert.

M a i  2 0 1 6

Der Genügsamste

Vier verwegene Gesellen
Stiegen einst hinab zur Höllen.
Vor dem höllischen Palast
Machten sie ein Weilchen Rast.

Alle schwitzten sie erklecklich,
Denn die Hitze war erschrecklich,
Und der Höllen-Reaumür
Stand auf Achtzehnhundertvier.

»Na, ick danke«, rief der Preuße,
»So ne jottverdammte Reise!
Hier kann eener ja verkochen –
Ick bin schonstens Haut un Knochen!«

»Gibts denn nöt a Bier, zum Geier,
Himmelsackra!« schrie der Bayer,
»Jesses, un bei dera Hitzen –
Na, do mag der Deifel sitzen!«

»Chrischtli!« jammerte der Schwabe,
»Läg i liewer noch begrabe!
Schwäbli, jetzscht gehts iewers Köpfli –
I zerschwitz in lauta Tröpfli!«

»Heernse«, sprach der Sachse: »schwiele
Find ichs nich – nich grade kiehle.
‘s Örtchen liegt e bißchen siedlich,
Awer sonst nich ungemiedlich.«

Georg Bötticher 

*

Georg Bötticher (1849-1918) war ein deutscher Grafiker, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Bötticher war der Vater des Kabarettisten Joachim Ringelnatz.

A p r i l  2 0 1 6

Iß, was gar ist, trink,
was klar ist,
red, was wahr ist.

Martin Luther

*

Martin Luther (1483 – 1546), deutscher Theologe und Reformator

M ä r z  2 0 1 6

Frühling

Was rauschet, was rieselt, was rinnet so schnell?
Was blitzt in der Sonne? Was schimmert so hell?
Und als ich so fragte, da murmelt der Bach:
„Der Frühling, der Frühling, der Frühling ist wach!”

Was knospet, was keimet, was duftet so lind?
Was grünet so fröhlich? Was flüstert im Wind?
Und als ich so fragte, da rauscht es im Hain:
„Der Frühling, der Frühling, der Frühling zieht ein!”

Was klingelt, was klaget, was flötet so klar?
Was jauchzet, was jubelt so wunderbar?
Und als ich so fragte, die Nachtigall schlug:
„Der Frühling, der Frühling!” – Da wusst’ ich genug!

Heinrich Seidel

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Heinrich Seidel (1842-1906) war ein deutscher Ingenieur und Schriftsteller

F e b r u a r  2 0 1 6

Die Stärke des Weins

Wein ist stärker als das Wasser:
Dies gestehn auch seine Hasser.
Wasser reißt wohl Eichen um,
Und hat Häuser umgerissen:
Und ihr wundert euch darum,
Dass der Wein mich umgerissen?

Gotthold Ephraim Lessing

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Gotthold Ephraim Lessing, (1729-1781), bedeutender Dichter und Dramatiker der Aufklärung.

J a n u a r  2 0 1 6

Der Zopf im Kopfe

Einst hat man das Haar frisiert,
Hat’s gepudert und geschmiert,
Daß es stattlich glänze,
Steif die Stirn begrenze.

Nun läßt schlicht man wohl das Haar,
Doch dafür wird wunderbar
Das Gehirn frisieret,
Meisterlich dressieret.

Auf dem Kopfe die Frisur,
Ist sie wohl ganz Unnatur,
Scheint mir noch passabel,
Nicht so miserabel,

Als jetzt im Gehirn der Zopf,
Als jetzt die Frisur im Kopf,
Puder und Pomade
Im Gehirn! – Gott Gnade!

Justinus Kerner

*

Justinus Christian Andreas Kerner (Schattenspieler Luchs) (1786-1862) deutscher Dichter und Arzt.