2011

D e z e m b e r  2 0 1 1

Bundeslied der Galgenbrüder

O schauerliche Lebenswirrn,
wir hängen hier am roten Zwirn!
Die Unke unkt, die Spinne spinnt,
und schiefe Scheitel kämmt der Wind.

O Greule, Greule, wüste Greule!
“Du bist verflucht!”, so sagt die Eule.
Der Sterne Licht am Mond zerbricht.
Doch dich zerbrach’s noch immer nicht.

O Greule, Greule, wüste Greule!
Hört ihr den Huf der Silbergäule?
Es schreit der Kauz: pardauz! pardauz!
da tauts, da grauts, da brauts, da blauts!

Christian Morgenstern

*

Christian Morgenstern (* 6. Mai 1871 in München; † 31. März 1914 in Meran),  vollständiger Name: Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern. In seinen Galgenliedern entfaltet Morgenstern seinen liebenswürdigen, scharfsinnigen Sprachwitz, dessen Sinnentschlüsselung oft „eines zweiten und dritten Blicks“ bedarf.

N o v e m b e r  2 0 1 1

Professoren-Liedchen

Büchlein Büchlein an der Wand
wer ist der Klügste im ganzen Land?
Der Doktor Doll, der Daktor Dall Der Diktor Dill, der Duktor Dull
das ist der Klügste im Land.
Büchlein, Büchlein das sollst Du mir büßen.

Martin Walser

*

Martin Walser (* 24. März 1927) ist ein deutscher Schriftsteller. Bekannt wurde Walser durch seine Darstellung innerer Konflikte der Antihelden in seinen Romanen und Erzählungen. Der Autor besuchte die Universität im Oktober 2011 zu einer Lesung aus seinem ins Finnische übersetzten Roman Ein liebender Mann (fin. Muuan rakastava mies – Lurra editions 2011). Bei dieser Gelegenheit las er auch das oben stehende Gedicht. Wir danken dem Autor herzlich! Zur Audio-Datei.

O k t o b e r  2 0 1 1

Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Georg Trakl

*

Georg Trakl (1887-1914) war ein österreichischer Dichter des Expressionismus.

S e p t e m b e r  2 0 1 1

Herbstgefühl

Grünen, Blühen, Duften, Glänzen,
Reichstes Leben ohne Grenzen,
Alles steigernd, nirgends stockend.
Selbst die kühnsten Wünsche lockend:

Ja, da kann ich wohl zerfließen,
Aber nimmermehr genießen;
Solche Flügel tragen weiter
Als zur nächsten Kirschbaum-Leiter.

Doch, wenn rot die Blätter fallen,
Kühl die Nebelhauche wallen,
Leis durchschauernd, nicht erfrischend,
In den warmen Wind sich mischend:

Dann vom Endlos-Ungeheuren
Flücht’ ich gern zum Menschlich-Teuren,
Und in einer ersten Traube
Sieht die Frucht der Welt mein Glaube.

Christian Friedrich Hebbel

*

Christian Friedrich Hebbel (1813-1863) war Maurerlehrling und Schreiber. Autodidaktische Bildung, 1842-43 Stipendium in Kopenhagen, 1843-44 Paris; dort Bekanntschaft mit Heine. Ab 1849 Feuilletonredakteur in Wien.

 

A u g u s t   2 0 1 1

Sommerfrische

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.

Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser
Weil`s wohltut, weil`s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.

Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.

Joachim Ringelnatz

*

Joachim Ringelnatz  (1883-1934); eigentlich Hans Gustav Bötticher). Er war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler.

J u l i   2 0 1 1

Geh aus mein Herz und suche Freud

Geh aus mein Herz und suche Freud
In dieser lieben Sommerszeit
An deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärtenzier
Und siehe, wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.

Die Bäume stehen voller Laub,
Das Erdreich decket seinen Staub
Mit einem grünem Kleide;
Narzissen und die Tulipan,
Die ziehen sich viel schöner an
Als Salomonis Seide.

Die Lerche schwingt sich in die Luft,
Das Täublein fleugt aus seiner Kluft
Und macht sich in die Wälder;
Die hochbegabte Nachtigall
Ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Tal und Felder.

Paul Gerhardt

*

Paul Gerhardt (1607- 1676), evangelisch-lutherischer Theologe und deutscher Dichter des Barock. Er gilt neben Martin Luther als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kirchenlieddichter.

J u n i   2 0 1 1

Sommer

Ich komm im Sommerwald daher
Und lausche seinem Weben –
Kein menschlich Schreiten trägt mich mehr,
Ein Wallen ist’s und Schweben.

Ich blicke nieder zur Blume ins Kraut,
Blick auf zur Sonn in die Höhe –
Wie aus dem Kleinen das Große sich baut:
Geheiligt ist, was ich sehe!

Klar wird’s in mir und seherhell –
Wie meine Sinne lauschen,
Klingt in mich ein, was leis der Quell,
Was Gräser und Bäume rauschen,

Hör ich das kreisende Blut der Natur
Durch Erden und Welten wallen,
Hör ich durch alle Kreatur
Den  e i n e n  Herzschlag hallen.

Ferdinand Avenarius

*

Ferdinand Ernst Albert Avenarius (1856-1923) war ein deutscher Dichter und Gründer der Zeitschrift Der Kunstwart. Ferdinand Avenarius war ein Bruder des Philosophen Richard Avenarius und ein Stiefneffe Richard Wagners. Die Sommer verbrachte Avenarius in Kampen auf Sylt, als dessen „Entdecker“ und Popularisierer er gilt. Avenarius wurde erster Ehrenbürger der Gemeinde Kampen.

M a i  2 0 1 1

Der Mai

Mit rosigtem Flügel
verjünget und neu
auf sonnigte Hügel
senkt froh sich der Mai.

Franz Grillparzer

*

Franz Grillparzer (1791-1872) war Jurist, Lehrer, Archivar und österreichischer Schriftsteller und Dramatiker.

A p r i l  2 0 1 1

Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.

Durch ihres Rumpfs verengten Schacht

fließt weißes Mondlicht

still und heiter

auf ihren

Waldweg

 u.s.

 w.

Christian Morgenstern

*

Christian Morgenstern: geb. 1871 in München, gest. 1914 in Meran. Morgenstern war ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer. Besondere Bekanntheit erreichte seine komische Lyrik, die jedoch nur einen Teil seines Werkes ausmacht.

M ä r z  2 0 1 1

Frühling  Ilse

Ich war ein Kind von fünfzehn Jahren,
Ein reines unschuldsvolles Kind,
Als ich zum ersten Mal erfahren,
Wie süß der Liebe Freuden sind.

Er nahm mich um den Leib und lachte
Und flüsterte:  O welch ein Glück!
Und dabei bog er sachte,  sachte
Den Kopf mir auf das Pfühl zurück.

Seit jenem Tag lieb’  ich sie alle,
Des Lebens schönster Lenz ist mein;
Und wenn ich keinem mehr gefalle,
Dann will ich gern begraben sein.

Frank Wedekind

*

Frank Wedekind (geb. 1864 in Hannover- gest. 1918 in München); deutscher Schriftsteller, Journalist und Schauspieler.

F e b r u a r  2 0 1 1

Vom Hering

Der Hering ist ein salzig Tier,
er kommt an vielen Orten für.
Wer Kopf und Schwanz kriegt, hat kein Glück.
Am besten ist das Mittelstück.

Es gibt auch eine saure Art,
in Essig wird sie aufbewahrt.
Geräuchert ist er alle Zeit
ein Tier von großer Höflichkeit.

Wer niemals einen Hering aß,
wer nie durch ihn von Qual genas,
wenn er mit Höllenpein erwacht,
der kennt nicht seine Zaubermacht!

Drum preiset ihn zu jeder Zeit,
der sich der Menschheit Wohl geweiht,
der heilet, was uns elend macht,
dem Hering sei ein Hoch gebracht!

Heinrich Seidel

* Heinrich Seidel (1842- 1906) Sohn eines Pfarrers, arbeitete erst als Ingenieur. Seit 1880 freier Schriftsteller, der in seinen Werken die idyllischen Seiten des bürgerlichen Lebens schildert.

Januar 2011

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten.
An keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen.
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

* Hermann Karl Hesse (Pseudonym: Emil Sinclair; 1877 -1962) deutsch-schweizerischer Dichter, Schriftsteller und Freizeitmaler. Bekannteste literarische Werke: Der Steppenwolf, Siddhartha, Peter Camenzind, Demian, Narziß und Goldmund, Unterm Rad und Das Glasperlenspiel. 1946 Nobelpreis für Literatur.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *