2013

D e z e m b e r  2 0 1 3

Die Heilige Nacht

So war der Herr Jesus geboren
im Stall bei der kalten Nacht.
Die Armen, die haben gefroren,
den Reichen war’s warm gemacht.

Sein Vater ist Schreiner gewesen,
die Mutter war eine Magd,
Sie haben kein Geld besessen,
sie haben sich wohl geplagt.

Kein Wirt hat ins Haus sie genommen;
sie waren von Herzen froh,
daß sie noch in Stall sind gekommen.
Sie legten das Kind auf Stroh.

Die Engel, die haben gesungen,
daß wohl ein Wunder geschehn.
Da kamen die Hirten gesprungen
und haben es angesehn.

Die Hirten, die will es erbarmen,
wie elend das Kindlein sei.
Es ist eine G’schicht für die Armen,
kein Reicher war nicht dabei.

Ludwig Thoma

*

Ludwig Thoma (1867 – 1921) deutscher Schriftsteller, der durch seine ebenso realistischen wie satirischen Schilderungen des bayerischen Alltags und der politischen Geschehnisse seiner Zeit populär wurde.

 

N o v e m b e r  2 0 1 3

November

Solchen Monat muss man loben;
Keiner kann wie dieser toben,
keiner so verdrießlich sein,
und so ohne Sonnenschein!
Keiner so in Wolken maulen,
keiner so mit Sturmwind graulen!
Und wie nass er alles macht!
Ja, es ist ‘ne wahre Pracht.

Seht das schöne Schlackerwetter!
Und die armen welken Blätter,
wie sie tanzen in dem Wind
und so ganz verloren sind!
Wie der Sturm sie jagt und zwirbelt
und sie durcheinanderwirbelt
und sie hetzt ohn’ Unterlass;
Ja, das ist Novemberspaß!

Und die Scheiben, wie sie rinnen!
Und die Wolken, wie sie spinnen
Ihren feuchten Himmelstau
Ur und ewig, trüb und grau!
Auf dem Dach die Regentropfen:
Wie sie pochen, wie sie klopfen!
Und an jeder Traufe hängt
Trän’ an Träne dicht gedrängt.

O, wie ist der Mann zu loben,
Der solch unvernünft’ges Toben
Schon im voraus hat bedacht
Und die Häuser hohl gemacht!
So dass wir im Trocknen hausen
Und mit stillvergnügtem Grausen
Und in wohlgeborgner Ruh
Solchem Gräuel schauen zu!

Heinrich Seidel

*

Heinrich Seidel (1842-1906) deutscher Schriftsteller und Ingenieur. Der berühmte Spruch „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ ist sein Motto gewesen und ist auch die erste Zeile seines Ingenieurlieds von 1871.

 

O k t o b e r  2 0 1 3

Der Oktober

Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.

Geh nur weiter, bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als sei’s zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen,
hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?

Geh nicht wie mit fremden Füssen
und als hättst du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüssen?
Lass den Herbst nicht dafür büssen,
dass es Winter werden wird.

Auf den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind’s Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter, bleib nicht stehn.

Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter,
denn das Jahr ist dein Gesetz.

Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rausch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiss die Richtung.
“Stirb und werde!” nannte Er’s.

Erich Kästner

*

Erich Kästner (1899 – 1974) deutscher Schriftsteller, Drehbuchautor und Verfasser von Kinderbüchern wie Emil und die Detektive, Das doppelte Lottchen und Das fliegende Klassenzimmer.

 

S e p t e m b e r  2 0 1 3

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: »Junge, wiste ‘ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb ‘ne Birn.«

So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. ‘s war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen »Jesus meine Zuversicht«,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu ‘ne Beer?«

So klagten die Kinder. Das war nicht recht –
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was er damals tat,
Als um eine Birn’ ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.

Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: »Wiste ‘ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew’ di ‘ne Birn.«

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Theodor Fontane

*

Theodor Fontane (1819-1898) deutscher Schriftsteller und wichtigster Vertreter des poetischen Realismus in Deutschland.

 

A u g u s t  2 0 1 3

Im August

Moorblüthe leuchtet im Purpurkleid,
Singende Bienen weit und breit.

Badende Kinder, sonnenbetaut,
Plätschern im Flusse mit jubelndem Laut.

All die Lerchen aus Rand und Band,
Wanderlieder durchklingen das Land.

Und vom Himmel das leuchtendste Stück
Blieb in den Blicken der Menschen zurück.

Carl Busse

*

Carl Busse (1872-1918) deutscher Lyriker und Literaturkritiker.

 

J u l i  2 0 1 3

Brennende Liebe

In meinem Garten lachet
Manch Blümlein blau und rot,
Vor allem aber machet
Die brennende Liebe mir Not.

Brauch ihrer nicht zu warten,
Sie blühet Tag und Nacht,
Wer hat mir nur zum Garten
Die brennende Liebe gebracht?

Wohin ich mich nur wende,
Blüht auch die holde Blum’,
Es blühet sonder Ende
Die brennende Liebe ringsum.

Die bösen Nachbarinnen,
sie bleiben neidvoll stehn.
sie flüstern: Ach, da drinnen
Blüht brennende Liebe so schön!

Julius Mosen

*

Julius Mosen (1803-1867)  arbeitete u.a. als Dramaturg und Rechtsanwalt. Seine Themen als Dichter und Schriftsteller in der Zeit der Romantik waren „Heimatliebe und Freiheitskampf“.

 

J u n i   2 0 1 3

Im Juni

Ich lag im Wald. Gleich Flammenpfeilen sandte
Die Sonne ihre Strahlen auf die Flur.
Mein Haupt war müd‘ und meine Stirne brannte.

Im Juni war’s. Die muntern Lerchen schwiegen;
Den raschen Schlag des Finken hört‘ ich nur
Und hörte summend nur die Bienen fliegen.

Ich schlummert‘ ein, von Waldesgrün geborgen.
Mich führt‘ ein Traum zu Jugendtagen, fern,
Und zeigte mir der Kindheit goldnen Morgen.

Wie ward so wohl mir auf dem moos’gen Pfühle!
So mag die Blume von dem Morgenstern
Wohl träumen in der Mittagssonnenschwüle

Emil Rittershaus

*

Friedrich Emil Rittershaus (1834-1897) war deutscher Dichter, Kaufmann, Rezitator und schrieb fürs Feuilleton.

 

M a i  2 0 1 3

Der Kuckuck und der Esel

Der Kuckuck und der Esel,
Die hatten großen Streit,
Wer wohl am besten sänge
Zur schönen Maienzeit
Wer wohl am besten sänge Zur schönen Maienzeit

Der Kuckuck sprach:  „Das kann ich!“
Und hub gleich an zu schreien.
Ich aber kann es besser!
Fiel gleich der Esel ein.
Ich aber kann es besser!
Fiel gleich der Esel ein.

Das klang so schön und lieblich,
So schön von fern und nah;
Sie sangen alle beide
Kuckuck,  Kuckuck, i-a!
Sie sangen alle beide
Kuckuck,  Kuckuck, i-a!

Heinrich Hoffmann von Fallersleben

*

“Der Kuckuck und der Esel” ist ein bekanntes deutsches Kinderlied, zu dem August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1835 den Text schrieb.

 

A p r i l  2 0 1 3

Sieh, das ist es …

Sieh, das ist es, was auf Erden
Jung dich hält zu jeder Frist,
Dass du ewig bleibst im Werden,
Wie die Welt im Wandeln ist.

Was dich rührt im Herzensgrunde,
Einmal kommt’s und nimmer so;
Drum ergreife kühn die Stunde,
Heute weine, heut sei froh!

Gib dem Glück dich voll und innig,
Trag es, wenn der Schmerz dich presst,
Aber nimmer eigensinnig
Ihren Schatten halte fest.

Heiter senke, was vergangen,
In den Abgrund jeder Nacht!
Soll der Tag dich frisch empfangen,
Sei getreu, doch neu, erwacht.

Frei dich wandelnd und entfaltend,
Wie die Lilie wächst im Feld,
Wachse fort, und nie veraltend
Blüht und klingt für dich die Welt.

Emanuel Geibel

*

Emanuel Geibel (1815-1884), deutscher Lyriker, Spätromantiker und Lübecker Stadtdichter, der mit Adelbert von Chamisso, Bettina von Arnim und Joseph von Eichendorff befreundet war.

 

M ä r z  2 0 1 3

Februar – März

Es taut in allen Fluren,
Das Wasser rieselt schon,
Auf seinen harten Sohlen
Der Winter zieht davon.

Er muß den Lichtern weichen,
Die hoch am Himmel stehn,
Den leicht beschwingten Lüften,
Die mild vom Hügel wehn.

Die kleinen Meisen pfeifen
Dem alten Winter nach
Und rufen in die Auen:
Erwach’, o Lenz, erwach’!

Die gelben Primeln nicken,
Schneeglöckchen läuten ein:
Nun will es Frühling werden,
Vergangen ist die Pein!

Die blauen Anemonen,
Die Veilchen sind dabei
Und freun sich, daß vom Eise
Die grüne Erde frei.

O lasse, Mensch, zergehen
Das Eis auch im Gemüt!
Bedenk’, daß Lenz und Leben
So bald, so bald verblüht!

Fritz Lemmermayer

*

Fritz Lemmermayer (1857-1932) war ein österreichischer Schriftsteller, Journalist und enger Jugendfreund Rudolf Steiners, dem Begründer der Anthroposophie.

F e b r u a r  2 0 1 3

 

Auch das ist Kunst,

ist Gottes Gabe,

aus ein paar sonnenhellen Tagen

sich so viel Licht ins Herz zu tragen,

dass, wenn der Sommer längst verweht,

das Leuchten immer noch besteht.

*

Dieses Gedicht wird zwar Goethe zugeschrieben, aber sicher ist es nicht.

J a n u a r  2 0 1 3

 

Lass deine Augen offen sein,
geschlossen deinen Mund,
und wandle still, so werden dir
geheime Dinge kund.

Hermann Löns

*

Hermann Löns (1866 – 1914) deutscher Journalist und Schriftsteller.  Löns`Landschaftsideal war die Heide und er schrieb viele Gedichte darüber; er war als Jäger, Natur- und Heimatdichter sowie als Naturforscher und -schützer schon zu seinen Lebzeiten eine Berühmtheit.

 

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