2014

D e z e m b e r  2 0 1 4

Der Bratapfel
(Volksgut aus Bayern)

Kinder, kommt und ratet,
was im Ofen bratet!
Hört, wie’s knallt und zischt.
Bald wird er aufgetischt,
der Zipfel, der Zapfel, der Kipfel,
der Kapfel, der gelbrote Apfel.

Kinder, lauft schneller,
holt einen Teller,
holt eine Gabel!
Sperrt auf den Schnabel
für den Zipfel, den Zapfel,
den Kipfel, den Kapfel,
den goldbraunen Apfel!

Sie pusten und prusten,
sie gucken und schlucken,
sie schnalzen und schmecken,
sie lecken und schlecken
den Zipfel, den Zapfel,
den Kipfel, den Kapfel,
den knusprigen Apfel.

 

N o v e m b e r  2 0 1 4

Alleweil ein wenig lustig

Alleweil ein wenig lustig,
alleweil ein wenig durstig,
alleweil ein wenig Geld im Sack,
alleweil ein wenig Schnupftabak,
allzeit so, so!
Man rede, was man will,
ich aber schweig fein still!
Alleweil ein wenig Geld im Sack,
alleweil ein wenig Schnupftabak,
allzeit so, so!

Alleweil ein wenig lustig,
alleweil ein wenig durstig,
alleweil ein gutes bayrisch Bier,
alleweil ein schönes Kind bei mir,
allzeit so, so!
Man rede, was man will,
ich aber schweig fein still!
alleweil ein gutes bayrisch Bier,
alleweil ein schönes Kind bei mir,
allzeit so, so!

Alleweil vom Weine schwanken
alleweil nach Hause wanken
alleweil ein wenig brüderlich
alleweil ein wenig liederlich
allzeit so, so!
Ja was hilft Sorg und Müh
die hat man spät und früh
alleweil ein wenig brüderlich
alleweil ein wenig liederlich
allzeit so, so!

*

Text und Melodie aus dem Augsburger Tafelkonfekt (1733) von Valentin Rathgeber (1682 – 1750). Rathgeber war ein deutscher Benediktinermönch, Komponist, Organist und Chorleiter des Barock.

Sein Augsburger Tafel-Confect (kurz für Ohren-vergnügendes und Gemüth-ergötzendes Tafel-Confect) ist eine Liedersammlung, aus der zur Nachspeise musiziert werden sollte, im Gegensatz zur Tafelmusik zum Hauptgang.

 

O k t o b e r  2 0 1 4

Oktoberlied

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!

Und wimmert auch einmal das Herz, –
Stoß an und laß es klingen!
Wir wissen’s doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenkt ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.

Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen.

Theodor Storm

*

Hans Theodor Woldsen Storm (1817-1888) war ein deutscherSchriftsteller und Lyriker; Autor von Novellen und Prosa des deutschen Realismus mit norddeutscher Prägung.

 

S e p t e m b e r  2 0 1 4

Ach, und ich dachte

Ach, und ich dachte
wenn ich dich liebe
Könnte ich sein
Dürfte ich leben –
Narren denken so!
Schurken denken so!

Ernst Jandl (1948)

*

Ernst Jandl (1925-2000)  war ein österreichischer Dichter und Schriftsteller. Jandl wurde vor allem durch seine experimentelle Lyrik bekannt, Neben Lyrik schrieb Jandl Prosatexte, mehrere Hörspiele sowie zwei Theaterstücke. Zu Jandls Popularität trugen seine Lesungen bei, die auf zahlreichen Schallplatten veröffentlicht wurden, sowie die künstlerische Zusammenarbeit mit Musikern aus dem Bereich des Jazz. Jandl lebte mit der Lyrikerin Friederike Mayröcker zusammen und beide wurden zu „literarischen Verbündeten“.

 

A u g u s t  2 0 1 4

Sommer

Sommertag! Mit üppigem Prangen
Glüht das Leben, wohin ihr schaut;
Himmel und Erde in trautem Umfangen,
Strahlen wie Bräutigam und Braut.

Wo der Lenz mit holder Verschwendung
Keime tausendfach ausgestreut,
Wächst empor zu schöner Vollendung,
Was die Erde an Süßem beut.

Aus des Laubwerks grünender Hülle,
Drin das Vöglein ein Heim errang,
Klingt hervor mit schmetternder Fülle
Hell frohlockender Jubelgesang.

Zwischen dem Gold der reifenden Ähren
Schimmern farbig Cyanen und Mohn; –
Schwellende Lippen lächeln Gewähren,
Werbender Liebe ward Treue zum Lohn.

Und im freudigen Überschäumen
Schaut befriedigt das Herz zurück,
Dem aus duftigen Lenzesträumen
Aufgeblüht ein gefestigt Glück.

Der du köstlich erfüllt nun zeigest,
Was die Seele sich wünschen mag,
Weile lang, bevor du dich neigest,
Schöner, herrlicher Sommertag!

Otto Baisch

*

Otto Baisch (1840-1892) deutscher Maler und Dichter.

 

J u l i  2 0 1 4

Der stille Garten

Wie gefangen liegt die Sonne
Hier in meinem kleinen Garten,
Wo zu immer neuer Wonne
Tausend Wunder auf mich warten.

Fühle von der Welt da draußen
Nichts mehr hinter seiner Türe,
Laß die Stürme all’ verbrausen;
Keiner, der ans Herz mir rühre.

Nur den Mond noch und die Sterne
Laß ich in den Garten sehen,
Und so darf ich in die Ferne
Lauter goldne Wege gehen.

Karl Ernst Knodt

*

Karl Ernst Knodt (1856 – 1917) deutscher Dichter und Pfarrer.

 

J u n i  2 0 1 4

Auf der Mauer auf der Lauer

Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanze.
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanze.
Seht euch nur die Wanze an,
wie die Wanze tanzen kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanze.

Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanz.
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanz.
Seht euch nur die Wanz an,
wie die Wanz tanz kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wanz

Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wan.
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wan.
Seht euch nur die Wan an,
wie die Wan tan kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wan.

Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wa.
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wa.
Seht euch nur die Wa an,
wie die Wa ta kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine Wa.

Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine W.
Seht euch nur die W an,
wie die W t kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine W.

Auf der Mauer, auf der Lauer
Sitzt ’ne kleine –.
Auf der Mauer, auf der Lauer
Sitzt ’ne kleine –.
Seht euch nur die – an,
wie die – – kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer
sitzt ’ne kleine –.

*

Auf der Mauer, auf der Lauer ist ein Kinderlied, das auf dem Prinzip des Lückentext-Liedes basiert. Im Verlauf des Liedes wird dabei pro Strophe von den Worten „Wanze“ und „tanzen“ jeweils ein Laut entfernt, bis schließlich eine Pause gemacht werden muss. Der älteste bekannte Druck des Liedes steht bei Georg Lehmann: Nürnberger Kinderlieder in der Zeitschrift Das Bayerland (Jahrgang I, 1890). In der DDR wurde das Lied bisweilen mit ironischem Bezug auf die Berliner Mauer und die Stasi gesungen, da der Begriff „Wanze“ umgangssprachlich auch für ein Abhörgerät stehen kann.

 

M a i  2 0 1 4

Herr Biedermeier

Schau, dort spaziert Herr Biedermeier
Und seine Frau, den Sohn am Arm;
Sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.
Das ist ein Bürger hochgeachtet,
Der geistlich spricht und weltlich trachtet;
Er wohnt in jenem schönen Haus
Und – leiht sein Geld auf Wucher aus.

Gemäßigt stimmt er bei den Wahlen,
Denn er missbilligt allen Streit;
Obwohl kein Freund vom Steuerzahlen,
Verehrt er sehr die Obrigkeit.
Aufs Rathaus und vor Amt gerufen,
Zieht er den Hut schon auf den Stufen;
Dann aber geht er stolz nach Haus
Und – leiht sein Geld auf Wucher aus.

Am Sonntag in der Kirche fehlen,
Das wäre gegen Christenpflicht;
Da holt er Labung seiner Seelen –
Und schlummert, wenn der Pfarrer spricht.
Das führt ihn lieblich bis zum Segen,
Den nimmt der Wackre fromm entgegen.
Dann geht er ganz erbaut nach Haus
Und – leiht sein Geld auf Wucher aus.

Acht! Wandrer, die gen Westen streben!
Wie rühret ihre Not sein Herz!
Wohl sieht er sammeln, doch zu geben
Vergisst er ganz in seinem Schmerz.
“Ihr Schicksal ruht in Gottes Händen!“
Spricht er – dann geht er auszupfänden,
Nimmt einem Schuldner Hof und Haus
Und  leiht sein Geld auf Wucher aus.

Den einzgen, hoffnungsvollem Sprossen –
Denn nicht mehr, das wäre Überfluss -,
Den hält er klösterlich verschlossen:
Die Sünde stammt ja vom Genuss.
Die Mutter führt ihr Küchlein sittig
Wie eine Henne unterm Fittich;
Sie sorgt für strenge Zucht im Haus
Und – leiht ihr Geld auf Wucher aus.

O edles Haus! O feine Sitten!
Wo jedes Gift im Keim erstickt,
Wo nur gepflegt wird und gelitten,
Was gern sich duckt und wohl sich schickt.
O wahre Bildung ohne Spitzen!
Nur der Besitz kann dich besitzen –
Anstand muss sein in Staat und Haus,
Sonst – geht dem Geld der Wucher aus.

Ludwig Pfau 

*

Ludwig Pfau (1821 – 1894) war ein deutscher Schriftsteller, Publizist und Revolutionär. Er war zur Zeit der Märzrevolution 1848 Herausgeber der Satirezeitschrift “Der Eulenspiegel”.Pfau geriet in späteren Jahren aufgrund seiner politischen Einstellungen in Konflikt mit dem württembergischen Staat und musste mehrere Haftstrafen verbüßen.

 

A p r i l  2 0 1 4

Frühling 

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike

*

Eduard Mörike (1804 – 1875) war ein deutscher Lyriker der Schwäbischen Schule, Erzähler und Übersetzer. Er war auch evangelischer Pfarrer.

 

M ä r z  2 0 1 4

Frühlingsgedicht

Willkommen, schöner Jüngling!
Du Wonne der Natur!
Mit deinem Blumenkörbchen
Willkommen auf der Flur!
Ei! ei! da bist ja wieder!
Und bist so lieb und schön!
Und freun wir uns so herzlich,
Entgegen dir zu gehn.

Denkst auch noch an mein Mädchen?
Ei, Lieber, denke doch!
Dort liebte mich das Mädchen,
Und ‘s Mädchen liebt mich noch!

Fürs Mädchen manches Blümchen
Erbat ich mir von dir –
Ich komm’ und bitte wieder,
Und du? – du gibst es mir?

Willkommen, schöner Jüngling!
Du Wonne der Natur!
Mit deinem Blumenkörbchen
Willkommen auf der Flur!

Friedrich Schiller

*

Friedrich Schiller (1759 – 1805) war ein deutscher Dichter, Philosoph und Historiker. Er ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker und Lyriker. Viele seiner Theaterstücke gehören zum Standardrepertoire der deutschsprachigen Theater. Seine Balladen zählen zu den bekanntesten deutschen Gedichten.
Schiller gehört mit Wieland, Goethe und Herder zu den wichtigsten Vertretern der Weimarer Klassik.

 

F e b r u a r  2 0 1 4

Diese Rose von heimlichen Küssen schwer

Sieh, das ist unsre Liebe.
Unsre Hände reichen sie hin und her,
unsre Lippen bedecken sie mehr und mehr
mit Worten und Küssen sehnsuchtsschwer,
unsre Seelen grüßen sich hin und her –
wie über ein Meer – – wie über ein Meer – –
Diese Rose vom Duft unsrer Seelen schwer:
sieh, das ist unsre Liebe.

Christian Morgenstern

*

Christian Morgenstern (1871 – 1914) war ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer.

 

J a n u a r  2 0 1 4

Schnee

Nun setzt der Schnee sich leicht wie Silberbienen
Sehr stumm auf jedes weggewelkte Blatt.
Da ist auf einmal auch der Mond erschienen,
Er überflügelt die gestirnte Stadt.

Den ersten Schnee erblicken Kinderaugen,
Dann schlafen bald die Kleinen strahlend ein.
Die Jüngsten träumen schon beim lieben Saugen,
Und was sie anweht, lächelt sanft und rein.

Von zarten Mullbehängen hoher Betten
Entflockt und lockert sich nun oft ein Stern,
Dann andre Sterne, die sich hold verketten,
Von solchen Dingern träumt das Kindlein gern.

Ein altes Weib voll Harm und weißen Haaren
Sitzt noch beim Rocken sorgenvoll und spinnt.
Es spinnt sich blind, kann nichts gewahren:
Der Mond ist fort. Obs nun zu schnein beginnt?

Vor grellen Fenstern und Laternen schwirrt es,
Die Silbermücken finden keine Rast.
Nun tönt Geklirr, die Stimme eines Wirtes.
Der erste Schlitten bringt den letzten Gast.

Das wirbelt, schwirbelt finster immer weiter,
Und kühler Schlaf besänftigt das Gemüt.
Auf einmal blicken trübe Träumer heiter,
Ein Schwerentschlummern hat sich ausgemüht.

Der Mond wird nimmer durch die Schleier blicken,
Die Silberblüten sinken viel zu dicht.
Ein Fieberschwacher weiß nicht einzunicken:
Es schneit auf seinen Leib und das Gesicht.

Der Schnee, der Schnee, es fallen kalte Spinnen
Auf eines Alten Bart und Lockenhaar,
Nun schneien selbst des Krankenbettes Linnen,
Den Fiebernden bedeckt sein Eistalar.

Die tiefste Milde legt sich in die Falten
Des Antlitzes: nun ist der Greis erstarrt;
Auch Träume Traumermüdeter erkalten.
Nun friert es gar. Der Schnee wird langsam hart.

Theodor Däubler 

*

Theodor Däubler (1876-1934) war ein deutscher Schriftsteller, Epiker, Lyriker, Erzähler und Kunstkritiker.

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