2012

D e z e m b e r  2 0 1 2

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke

*

Rainer Maria Rilke (1875-1926) gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der deutschen Sprache. Er verfasste Erzählungen, Romane, Übersetzungen und Aufsätze zu Kunst und Kultur.

N o v e m b e r  2 0 1 2

Die Rose im November

An Sophie B.

Herbstlich rauh verödet sind die Fluren,
Und verschwunden ist des Sommers Glanz;
Dennoch reich’ ich eine seiner Spuren
Glühend Dir zum jugendlichen Kranz.

Diese Rose, die sich spät erschlossen,
Dufte Lenzgefühl Dir in die Brust. –
Ach sie hat die Sonne nicht genossen,
Nicht der milderen Entwicklung Lust.

Feuchte Lüfte haben sie erzogen,
Dennoch trotzte sie mit innrer Kraft,
Still und schweigend kalten Nebelwogen,
Und des Sturmes wilder Leidenschaft.

Dir, der tiefe Innigkeit und Güte
Mitgefühl für stumme Schmerzen reicht,
Sage ihre bald verwelkte Blüthe
Welchem Loos ihr trübes Schicksal gleicht.

Charlotte von Ahlefeld

*

Charlotte von Ahlefeld (1777-1849) war eine deutsche Schriftstellerin und Vertraute Goethes und Frau von Steins. Sie veröffentlichte rund 50 Romane, die besonders bei der weiblichen Leserschaft sehr beliebt waren.

 

O k t o b e r  2 0 1 2

Spätherbst

Der graue Nebel tropft so still
Herab auf Feld und Wald und Heide,
Als ob der Himmel weinen will
In übergroßem Leide.
Die Blumen wollen nicht mehr blühn,
Die Vöglein schweigen in den Hainen,
Es starb sogar das letzte Grün,
Da mag er auch wohl weinen.

Hermann Allmers

*

Hermann Allmers (1821-1902) war ein deutscher Dichter, der vor allem über Kultur und Landschaft seiner nordwestdeutschen Heimat schrieb.

 

S e p t e m b e r   2 0 1 2

Jugend

Mit dem Strohhut in der Hand,
war es mir, als trügen Flügel
durch den Wald mich, übers Land,
über bunte Frühlingshügel.

Auf den heißen Wangen glühten
mir die Rosen maienwahr,
und die weißen Kirschenblüten
flocht ich mir ins dunkle Haar —

Meine Jugend ist vergangen
wie ein lindes Frühlingswehn.
Habe mir kein Glück erfangen,
hab’s im Traume nur gesehn!

Mathilde von Bayern

*

Mathilde Prinzessin von Bayern (1877 – 1906) war eine bayrische Prinzessin. 1910 erschien ihr Gedichtband “Traum und Leben – Gedichte einer früh Vollendeten”.

 

A u g u s t  2 0 1 2

Beim Regen

Liebe Sonne, scheine wieder,
Schein’ die düstern Wolken nieder!
Komm mit deinem goldnen Strahl
Wieder über Berg und Tal!

Trockne ab auf allen Wegen
Überall den alten Regen!
Liebe Sonne, lass dich sehn,
Dass wir können spielen gehn!

Heinrich Hoffmann von Fallersleben

*

Der Dichter, eigentlich August Heinrich Hoffmann (1798-1874),  war Germanist, Dichter sowie Sammler und Herausgeber alter Schriften aus verschiedenen Sprachen. Er schrieb die spätere deutsche Nationalhymne, das „Lied der Deutschen“, sowie zahlreiche populäre Kinderlieder.

 

J u l i  2 0 1 2

Nörgeln

Nörgeln ist das Allerschlimmste,
Keiner ist davon erbaut;
Keiner fährt, und wärs der Dümmste,
Gern aus seiner werten Haut.

Wilhelm Busch

*

Wilhelm Busch (1832 -1908) war einer der einflussreichsten humoristischen Dichter und Zeichner Deutschlands. Seine Bildergeschichte von Max und Moritz ist weltbekannt. Er gilt heute als Pionier des Comics.

 

J u n i  2 0 1 2

Der beste Liebesbrief

Hat sie’s dir denn angetan
Im Vorüberschweben,
So verfolge rasch die Bahn
Zu dem neuen Leben.

Hasche dir den Schmetterling
Auf dem Rosenhügel,
Nimm ihm mit dem blauen Ring
Seinen weißen Flügel;

Borge von der Biene dann
Dir den Honigrüssel,
Der zum Griffel dienen kann,
Wie zum Blumenschlüssel;

Laß das Blatt nun ohne Scheu
Durch die Lüfte schnellen:
Ist dir Amor hold und treu,
Wird’s der Wind bestellen.

Friedrich Hebbel

*

Friedrich Hebbel (1813 -1863) – deutscher Dramatiker und Lyriker.

 

M a i  2 0 1 2

Alles neu macht der Mai

Alles neu macht der Mai
macht die Seele frisch und frei
Laßt das Haus, kommt hinaus,
windet einen Strauß!
Rings erglänzet Sonnenschein
duftend pranget Flur und Hain
Vogelsang, Hörnerklang
tönt den Wald entlang

Wir durchzieh’n Saaten grün
Haine, die ergötzend blüh’n
Waldespracht – neu gemacht
nach des Winters Nacht.
Dort im Schatten an dem Quell
rieselnd munter, silberhell
klein und Groß ruht im Moos
wie im weichen Schoß

Hier und dort, fort und fort
wo wir ziehen Ort für Ort
Alles freut sich der Zeit
die verjüngt, erneut
Widerschein der Schöpfung blüht
uns erneuernd im Gemüt
Alles neu, frisch und frei
Macht der holde Mai

Hermann Adam von Kamp

*

Hermann Adam von Kamp (1796-1867) war ein deutscher Lehrer, Heimatkundler und Schriftsteller. Das von ihm 1818 verfasste Lied Alles neu macht der Mai zählt zum lyrischen Kulturgut der deutschen Sprache.

 

A p r i l  2 0 1 2

Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.
Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei–verjährt–
doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
ist leise.
Die Zeit entstellt alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache in einem Sieb.
Ich habe dich so lieb.

Joachim Ringelnatz

*

Joachim Ringelnatz  (1883 – 1934; eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler.

 

 

M ä r z  2 0 1 2

März

Es ist ein Schnee gefallen,
Denn es ist noch nicht Zeit,
Dass von den Blümlein allen,
Dass von den Blümlein allen
Wir werden hoch erfreut.

Der Sonnenblick betrüget
Mit mildem, falschem Schein,
Die Schwalbe selber lüget,
Die Schwalbe selber lüget,
Warum? Sie kommt allein.

Sollt ich mich einzeln freuen,
Wenn auch der Frühling nah?
Doch kommen wir zu zweien,
Doch kommen wir zu zweien,
Gleich ist der Sommer da.

Johann Wolfgang von Goethe

*

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war ein deutscher Dichter, Naturforscher und hoher Beamter am Hof von Weimar.  Gemeinsam mit Friedrich Schiller gehört er zum wichtigsten Vertreter der Weimarer Klassik.

 

F e b r u a r  2 0 1 2

Winter

Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an
Und scheut nicht Süß noch Sauer.

Er zieht sein Hemd im Freien an
Und läßt’s vorher nicht wärmen,
Und spottet über Fluß im Zahn
Und Kolik in Gedärmen.

Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiß er sich nichts zu machen,
Haßt warmen Drang und warmen Klang
Und alle warmen Sachen.

Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn’s Holz im Ofen knittert,
Und an dem Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;

Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
Und Teich und Seen krachen,
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
Dann will er sich totlachen.

Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.

Da ist er denn bald dort, bald hier,
Gut Regiment zu führen.
Und wenn er durchzieht, stehen wir
Und sehn ihn an und frieren.

Matthias Claudius

*

Matthias Claudius (Pseudonym Asmus, geb. 1740 in Reinfeld (Holstein) – gest. 1815 in Hamburg) war ein deutscher Dichter und Journalist. Er wurde bekannt als Lyriker mit volksliedhafter, intensiv empfundener Verskunst.

 

J a n u a r  2 0 1 2

Lust der Erstarrung

Winter! Winter! frost’ges Leben!
Schnee und Erde deckt die Reben,
Und der Most in Fasses Runde
Schweigt, gibt nimmer Lebenskunde.

Winter! Winter! kalter Schrecken!
Möcht’ mich auch mit Erde decken,
Daß das Blut in meinem Herzen
Stände still mit all den Schmerzen!

Justinus Kerner

*

Justinus Kerner (1786-1862) war ein deutscher Dichter, Arzt und medizinischer Schriftsteller, er veröffentlichte medizinische Beiträge.

 

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