“Effi Briest” als eine Schilderung der Gesellschaft

Theodor Fontanes Effi Briest von 1894/95 erzählt die Geschichte einer jungen Frau, für die es letztlich zu schwer ist, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Tuuli hat bereits in ihrem früheren Post die Handlung des Romans zusammengefasst und seine für den Realismus typischen Erzähltechniken analysiert; deshalb werde ich mich in meinem Beitrag auf die inhaltliche Seite des Werkes konzentrieren.

Theodor_Fontane

Effi Briest ist ein gutes Beispiel für den deutschen Realismus, der von den Leben einzelner Menschen handelt. Aus dieser Perspektive ähnelt er dem französischen roman de mœurs, oder Sittenroman, obwohl diese Bezeichnung in der deutschen Literaturwissenschaft kaum verwendet wird. Ich halte sie jedoch für passend, weil sie den gesellschaftlichen Aspekt der Gattung betont: Das Individuum mit seinen Gedanken steht im Fokus, aber durch sein Schicksal werden auch gesellschaftliche Themen und Fragen behandelt.

Ein typisches Thema in solchen Romanen ist der Ehebruch. Frühere Beispiele in der europäischen Belletristik sind Madame Bovary (1857) von Gustave Flaubert und Anna Karenina (1877/78) von Lew Tolstoi. Es ist ein Thema, das heiße Gefühle im 19. Jahrhundert erweckte; dies kann man schon daraus schließen, dass Flaubert in Frankreich vor Gericht gefordert wurde, weil nach dem Ankläger in Madame Bovary die Handlungen von Emma nicht streng genug beurteilt werden, sondern eher objektiv beschrieben werden. Auch in Effi Briest ist der Ehebruch ein leitendes Thema, aber wie in Madame Bovary, werden Effis Taten vom Erzähler nicht abgeschätzt. Sogar bei Effis Ehemann, Innstetten, sind die Gründe, warum er sich von Effi scheiden lassen und ihren ehemaligen Liebhaber töten will, nicht persönlich: Er ängstigt sich nur darum, dass sein gesellschaftlicher Status darunter litte, wenn er auf Effis Taten nicht reagieren würde.

Aus Effis Perspektive kann der Charakter von Innstetten als ein Symbol des gesellschaftlichen Drucks auf ein Individuum gesehen werden. Wie Emma in Madame Bovary, ist Effi jung und träumt von romantischer Liebe. Sie freut sich schon auf ihre kommende Ehe, als sie erfährt, dass sie Innstetten heiraten wird: „‘Gewiß ist es der Richtige […] Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.‘“ (182) Effi versucht sich zu sichern, dass das wirkliche Leben ihren Phantasien entsprechen wird, aber schon vor der Hochzeit hat sie einige Zweifel: „‘Ja, ein bißchen genant ist es mir, aber doch nicht sehr. Und ich denke, ich werde darüber wegkommen.‘“ (183) Doch das Leben mit Innstetten ist gar nicht, wie Effi es geträumt hat. Die Wirklichkeit, die aus schrecklichen Nachbarn und mangelndem Sozialleben in einer pommerischen Kleinstadt besteht, zerbricht Effis frühere Idealbilder.

Immer ist es Innstetten, der fordert, dass Effi ihre Rolle als die Frau eines Landrates spiele; sonst würde er in ein schlechtes Licht geraten und sein beruflicher Aufstieg gefährdet würde. Um diese Drücke zu fliehen, beginnt Effi Major Crampas zu treffen, was schließlich zu ihrem Verhältnis führt. Auf eine Weise wird Effis Schicksal als unvermeidlich gesehen: Es wird sowohl von ihrer Natur als auch ihrer Erziehung gesprochen. Darin kann die wissenschaftliche Entwicklung der Zeit festgestellt werden: Darwins Arbeit über Erblichkeit wurde von Schriftstellern übernommen, die sie auf menschliche Schicksale anwandten. Besonders in Émile Zolas Werken kann dieser Denkansatz gesehen werden: Der französische Schriftsteller war sich sicher, dass die Art, auf die das Leben eines Individuums verläuft, schon durch das Erbgut bestimmt sei. In Effi Briest kann man sehen, dass Fontane davon nicht genauso überzeugt war wie Zola: Auch Effis Erziehung wird mehrmals als Ursache für ihr Verhalten erwähnt. Doch die Idee, dass das Individuum sein Schicksal kaum beeinflussen kann, ist bei beiden Autoren zu betrachten.

Bemerkenswert ist aber, dass die Art und Weise, auf die Innstetten auf den Ehebruch von Effi reagiert, macht ihn nicht glücklich. Als er seine Entscheidung trifft, handelt er gemäß den Erwartungen der Gesellschaft. Aber wie er selbst bemerkt, „‘je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich, daß dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht‘“. (419) Der berufliche Erfolg, nach dem er gestrebt hat, erfüllt seine eigenen Erwartungen nicht, wenn er Effi hat aufgeben müssen. Ein Mensch kann also nur dann glücklich sein, wenn er seinem eigenen Willen folgt.

Gesellschaftskritik ist auch ein Aspekt eines Werkes aus dem 19. Jahrhundert, den der moderne Leser gut aufgreifen kann. Obwohl die Gesellschaft anders geworden ist, übt sie vielleicht sogar mehr Drücke auf ein Individuum aus als die des 19. Jahrhunderts. Zumindest ist sie heutzutage viel mehr zersplittert: Im 19. Jahrhundert waren die Erwartungen der Gesellschaft innerhalb einer Schichte sehr statisch, und aus einer Schichte zu einer anderen konnte man kaum übertreten. Heute gibt es unerhört viele Gruppen und Untergruppen, derer jede ihre eigene Drücke und Erwartungen auf seine Mitglieder ausübt. Es sind nicht nur die Vorlieben des Individuums gegen die Drücke der Gesellschaft, sondern verschiedene Teile der Gesellschaft wirken gegeneinander.

Eine andere Perspektive, die den heutigen Leser interessieren kann, entstammt auch den Unterschieden zwischen der heutigen und damaligen Gesellschaft. Wie Tuuli schon erwähnt hat, empfindet der moderne Leser die Reaktionen Innstettens und ihrer Eltern auf Effis Taten als sehr streng. Aber welche Reaktionen unserer heutigen Gesellschaft würde ein späterer Betrachter als komisch oder streng empfinden? Man kann durch gesellschaftliche Kunstwerke also nicht nur die Beziehungen zwischen der heutigen und den vergangenen Gesellschaften vergleichen, sondern sie veranlassen uns, über die Beziehung der heutigen Gesellschaft zu kommenden Gesellschaften nachzudenken.

Primäre Quelle:

Fontane, Theodor (1959): Sämtliche Werke. Band VII. München: Nymphenburger.

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