Die Deutschen und Deutschland in „Djadi, Flüchtlingsjunge“

Autor: Johan Lindholm

Obwohl „Djadi, Flüchtlingsjunge“ hauptsächlich um die Flüchtlingskrise und die davon folgende Traumatisierung der Flüchtlingskinder handelt, ist es eigentlich auch ein Werk über die Deutschen und Deutschland. Im Buch sind wir ja die ganze Zeit in Deutschland, begegnen wir verschiedene Deutschen und erleben wir soziale Konstruktionen der deutschen Gesellschaft. Djadi ist der einzige Flüchtling, den wir überhaupt treffen, und er verkörpert die tausenden Kinder, die wegen verschiedener Krisen in der Welt leiden.

Darum habe ich entschieden, das Land, das im Buch erscheint, ein bisschen näher zu untersuchen. Als Finne ist es besonders interessant, weil als Ausländer und Sprachlerner lese ich wahrscheinlich das Buch viel bewusster als ein normaler Deutsche, was zu anderen Aha-Erlebnissen führen kann. Was Deutschen bekannt, alltäglich und dafür vielleicht langweilig finden, kann bei mir eine völlig andere Reaktion auslösen. Weil es doch völlig unmöglich, alle Aspekte des Buches durchzugehen, habe ich drei ausgewählt: (1) wohnen, (2) Bürokratie und (3) Berufe.

Alte Hippies in einer Wohngemeinschaft?

Es stimmt wahrscheinlich, dass die Deutschen in einer WG öfter wohnen als Leute in vielen anderen westlichen Ländern. Gucken wir auf Statistik über die Anzahl der Studenten, die mit anderen Personen leben, finden wir beispielsweise, dass deutsche Studenten wohnen in WG-ähnliche Verhältnissen viel öfter als finnische – 35 gegen 15 Prozent. Für sein Werk hat Peter Härtling doch eine ziemlich außergewöhnliche WG gewählt – eine mit drei älteren Paaren.

Ich muss damit anfangen, dass im Buch wird nichts darüber gesagt, ob die WG-Einwohner in der Vergangenheit Hippies waren oder nicht, so alles was folgt darüber ist Spekulation pur. Es gab doch zwei Indizien dafür. Das erste ist, dass die WG 1969 gebildet wurde und mindestens zwei der ursprünglichen Einwohner sind immer noch da: Wladi und Detlef. Dazu kommt die Szene, in der Detlef holt die anderen mit seinem Bus nach dem Inselurlaub ab. Er ist aber Steuerberater so wahrscheinlich handelt es sich nicht um einen großen Bus für 50+ Menschen, sondern um einen Kleinbus. Ich kann darum mich gut vorstellen, dass er mit einem alten VW-Kleinbus aus den 60ern fährt. Und ein solcher Bus ist eng mit der Hippie-Bewegung assoziiert.

Eine wichtigere Frage als die oben ist doch, warum der Autor für eine so merkwürdige WG sich entschieden hat. Das Alter der Einwohner kommt wahrscheinlich davon, dass er seine eigene Flüchtlingserlebnisse reinschreiben wollte, was auch sehr verständlich ist und das Thema über Generationen erweitert. Ein möglicher Grund für die Wahl einer WG ist, dass alle Hauptfiguren dann die ganze Zeit zu Verfügung stehen. Das macht es sicherlich viel einfacher, aber dieser Grund wäre ziemlich langweilig.

Es ist auch möglich, dass der Schriftsteller hier zu einem bekannten afrikanischen Sprichwort hinweist: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Oder eher zu seiner deutschen Version: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es eine ganze Wohngemeinschaft.“ Und so ist es auch – alle in der WG helfen mit der Erziehung von Djadi. Die eine mit dem Lesen und Schreiben, die zweite mit Mathe und so weiter. Natürlich kann es auch so einfach sein, dass Peter Härtling einmal in einer WG selbst gewohnt hat und sich nostalgisch gefühlt hat.

Behördenkritik

Im Buch malt Peter Härtling nicht ein schönes Bild von den deutschen Behörden. Das Zitat unten im Bild beschreibt, wie die Behörden sich gegenüber Djadi verhalten – er ist ein Ärgernis, irgendetwas, das in einem engen Bürokratenperspektiv nicht reinpasst. Man wahrnimmt auch eine gewisse Gleichgültigkeit bei den Beamten, mindestens so lange die selber für Djadi kümmern müssen.

Wenn der Flüchtlingsjunge in die Wohngemeinschaft reingezogen ist, verändert sich doch ihr Verhalten. Jetzt fängt an eine ununterbrochene Überwachung, die durch das ganze Buch fortsetzt. Die Gespräche mit den Behörden sind fast wie Verhöre: Was hat der Junge gesagt, erinnert er jetzt irgendetwas? Es ist manchmal als ob sie Djadi verdächtigen würden, als ob er ein schlimmer Verbrächer wäre statt eines Kindes und Flüchtlings. Alle Beamten im Buch sind gewiss nicht „Arschlöcher“ – wie Leute im Allgemeinen variiert es von Person zu Person.

Insgesamt finde ich, dass ein klares Nebenthema des Werks Behördenkritik ist. Die Benutzung einiger Riesenwörtern und bürokratischen Termini verstärkt diesen Eindruck. Das Thema ist sicherlich wichtig und unterstützungswert, aber hier stellt sich die Frage, wie gut dieses Thema und zum Beispiel Wörter wie „polizeiliche Unbedenklichkeitsbescheinigung“ in einem Roman für Kinder passt?

Ein besonderer Arbeitsmarkt

Der letzte Aspekt, den ich untersucht habe, handelte um, was die Deutschen gemäß dem Buch machen, das heißt, womit beschäftigen sie sich, um Kohle zu kriegen. Um das herauszufinden, habe ich alle Berufe im Werk gesammelt und danach in groben Gruppen geteilt. Die Resultate finden sich im Bild nebenan.

Wenn man sie durchblickt und analysiert, wird es sofort klar, dass die Berufe sehr schief geteilt sind – es gibt einfach kein Gleichgewicht zwischen der rechten Seite und der linken. Das wird noch klarer, wenn man die vier „Transport-Berufe“ von der rechten Seite wegnimmt. Dann gibt es fast keine Berufe übrig da. Na, da gibt immer noch der größte Stereotyp des Buchs: die Gasthauswirtin. Sie ist natürlicherweise eine strenge Frau, die doch ein gutes Herz (und, wie typisch, einen großen Körper) hat.

Es ist eigentlich verblüffend, wie viele mit Krankenpflege zu tun haben. Noch verblüffender ist, dass ein normaler Arzt nicht reicht. Ne, wir brauchen auch ein Amts-, Kinder-, Not- und Inselarzt – einer für alle Einzelfälle. Peter Härtling hat das Buch weniger als ein Jahr vor seinem Tod geschrieben. Darum muss ich mich darüber wundern, ob er damals schon krank war, was vielleicht das Werk beeinflusst hat… Aber in diesem Fall überanalysiere ich wahrscheinlich.

Aus dem Buch können wir sowieso schlussfolgern, dass sehr viele Deutschen öffentlich Angestellte sind, die sich mit Krankenpflege, Schulkindern und Sozialfällen sich beschäftigen. Das ist noch irgendetwas, das „Djadi, Flüchtlingsjunge“ von anderen Kinderbüchern unterscheidet.

Fazit

„Djadi, Flüchtlingsjunge“ ist einfach ein außergewöhnliches Buch. Die großen Themen – Flüchtlinge, Trauma, Identität – sind schwer, wichtig, global und, leider, immer aktuell. Wenn wir dazu noch die Merkwürdigkeiten, die ich hier behandelt habe, fügen, ist das Resultat sicherlich beeindruckend, aber die wichtige Frage ist, geht es wirklich um einen Roman für Kinder und noch wichtiger, ist es ein Buch, das Kinder interessiert. Hoffentlich ist es so, aber ehrlich gesagt zweifle ich ein bisschen darüber. Vielleicht hat Peter Härtling am Ende eigentlich ein Kinderbuch für Erwachsene geschrieben.